Nach dem Stadtderby von Vilnius am Samstag, ging es nur für wenige Stunden in das Bett. Um 3:00 Uhr Nacht hiess es schon wieder aus den Federn klettern, um nach Daugavpils aufzubrechen. Hier erwartete mich das Spitzenspiel der lettischen Virsliga. Der Tabellenführer Daugava Daugavpils empfing den unmittelbaren Verfolger Liepājas Metalurgs.
Von Vilnius ging es also nachts mit dem Taxi zum Bahnhof, und mit einer Lokalbahn entlang der weissrussischen Grenze in Richtung Norden. Sumpfige Wiesen und Felder säumten den Weg. In der Station Visaginas war Endstation. Ein Bahnhof mitten im Wald. Ich marschierte zu Fuss weiter in Richtung Norden bis zum nächsten Taxistand. Das Taxi brachte mich in die Stadt Visaginas. Auch die Stadt war umringt von Wald. Litauisch hörte man hier nicht mehr viel. Ich befand mich zwar noch in Litauen, doch ich hörte nur mehr noch die russische Sprache: Privet, Dawai, Karashou, etc …
Da stand ich nun. Öffentliche Verkehrsmittel? Ich entdecke eine Bushaltestelle mit einigen Leuten davor. Da schliesse ich mich an, denke ich mir. Nach einer kurzen Weile kommt auch schon ein Kleinbus daher. Die Verständigung mit dem Busfahrer ist schwer. Kein Englisch, kein Deutsch, und auch mit dem Litauisch hat er scheinbar keine rechte Freude. Ich drück ihm einfach einen Geldschein und einige Münzen in die Hand. Er mustert das Geld kritisch, gibt mir eine Münze zurück, und nickt zufrieden mit dem Kopf.
Der Fahrer vertritt sich draussen seine Füsse. Der Bus ist schon relativ voll besetzt. Ich warte so geduldig auf meinem Platz bis die Fahrt los geht. Ich bilde mir ein „Daugavpils“ in Wortfetzen irgendwie vernommen zu haben. Wird schon in die richtige Richtung gehen.
Der alte Mann steigt nun in sein Gefährt und beginnt die Fahrt. Schlaglöcher lassen den Bus ständig ordentlich durchrütteln. Es geht also weiter in Richtung Norden. Wir passieren den Ort Zarasai. In Zarasai sieht es etwas freundlicher aus als in Visinginas. Nach der lettischen Grenze geht es nur mehr gerade in Richtung Daugavpils.
Sonntag um 8:43 sehe ich zum ersten Mal die Stadt und den Fluss Düna (lettisch: Daugava). Die Fahrt mit dem Kleinbus dauerte etwa 2 Stunden.
Der Bus überquert die Brücke und hält im Busbahnhof. Jetzt habe ich es schon mal in die Stadt geschafft.
Daugavpils am Sonntag Morgen. Ich spaziere durch die Innenstadt und fühle mich wie der letzte Mensch auf Erden der irgendeine Katastrophe überlebt hat. Keine Menschenseele auf der Strasse. Auch der Bahnhof, er ist geöffnet, aber keiner da. Absolut keiner.
Nach einer Weile kommt dann jedoch schon etwas mehr Leben in die Stadt. Ich gehe zum Hotel Latgola und nehme mir ein Zimmer. Die Uhr zeigt 9:30.
Das Hotelzimmer sieht ordentlich aus. Kostet 50 Euro die Nacht.
Ein kurzer Blick aus dem 7. Stock.
Im Restaurant im obersten Stockwerk des Hotels treffe ich zwei Spieler der Gastmannschaft Liepājas Metalurgs. Das trifft sich ja gut für ein Foto. Ich habe keine Ahnung wie diese zwei Spieler heissen, aber ich denke in Lettland sind sie bestimmt zwei grosse Stars. 😀
Den restlichen Vormittag und den anbrechenden Nachmittag erkunde ich die Stadt. Daugavpils hat 103.000 Einwohner, war im und nach dem 1. Weltkrieg heiss umkämpft, besitzt eine Festungsanlage aus dem frühen 19. Jahrhundert, und wurde auch im 2. Weltkrieg nicht verschont. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt bleiben aber im bescheidenen Rahmen. Wie schön dass hier zumindest heute ein Fussballspiel stattfindet.
Vor dem Spiel noch ein lettisches Bier: Aldaris. Gut hat es geschmeckt!
Der Marsch zum Stadion dauert eine Weile, und führt mich über die Gleisanlagen der Stadt. So sieht mein erster Blick in das Innere der Anlage aus.
Die Haupttribüne von aussen. Hier befinden sich auch die Spielerkabinen. Aus einer Kabine tönt laute Rockmusik.
Der Eintritt kostet einen Lat. Also 1,40 Euro. Im Stadion sehe ich mich gleich etwas um. Im Bild: die Westkurve.
Die Tribüne für das gemeine Volk. Hier darf ich also sitzen.
Bei genauerer Betrachtung vergeht einem das Sitzen aber dann relativ schnell.
Zum Glück hat ein netter Russe eine alte Zeitung für mich. Darum hatten also alle Zuschauer vor dem Eingang eine Zeitung unter ihren Achseln geklemmt. Und ich dachte schon hier handelt es sich um ausgesprochen intellektuelle Fussballbesucher.
Die Zeit vergeht. Ich beobachte beide Mannschaften aufmerksam bei ihren Aufwärmübungen. Plötzlich marschiert der Auswärtsmob von Liepājas Metalurgs auf. Grimmige Männer im besten Alter. Mit versteinerten Mienen schreiten sie unter der Tribüne der Daugava Anhänger vorbei. Das ganze Stadion ist mucksmäuschenstill.
Doch der harte Kern der Daugava Ultras lässt sich von so einer Aktion natürlich nicht beeindrucken. Sie erheben sich von ihren Sitzen und geigen ihnen ihre Meinung. Natürlich alles auf Russisch. Daugavpils befindet sich zwar in Lettland, und Lettisch ist auch die offizielle Amtssprache, jedoch auf der Strasse, in Lokalen und eben auch im Fussballstadion hört man nur die russische Sprache.
Lettland, 1. Liga (Virsliga)
Daugava Daugavpils – Liepājas Metalurgs 0:0
Beginn: 16:00
Stadions Celtnieks, 500 Zuschauer
Das Spiel kann also beginnen. Wie man sieht, bietet die „Haupttribüne“ nicht gerade eine grosse Anzahl von freien Plätzen. Ein erlauchter Kreis von Fussballliebhabern darf am exklusiven Balkon Platz nehmen. Die Gäste von Liepājas Metalurgs spielen in rot-weiss. Daugava Daugavpils, die Gastgeber, in weiss.
Eines möchte ich noch anmerken bevor das Spiel beginnt. Der Stadionsprecher verübelte meine Laune bis zum Anpfiff mit einem hundsmiserablen Musikgeschmack. Irgendeine unbekannte Hardrockmusik aus den 70er Jahren … wirklich … ÜBELST … ich habe ja in den verschiedensten Stadien die ich in meinem Leben besucht habe ja schon viel Musik gehört. Auch Stücke die mir weniger bis gar nicht gefallen haben. Ich denke das ist ganz normal. Aber diese Beschallung war mit Sicherheit die mieserabelste und geschmackloseste Stadionmusik meines gesamten Lebens!
Daugavpils beginnt das Spiel ruppig und kauft den Gästen gleich die Schneid ab. Ich muss hinzufügen dass Daugava Daugavpils als die aktuelle Überraschungsmannschaft Lettlands gilt. Der Verein hat nicht die finanziellen Mittel wie etwa Liepājas Metalurgs oder auch Ventspils. So gesehen muss man auch das Spielgeschehen richtig bewerten. Hier spielt nicht der überlegene Tabellenführer gegen die Gäste die sich fürchten müssen, sondern der Gastgeber ist hier in diesem Spiel der leichte Aussenseiter.
Aber dass die Tabellenführung von Daugava Daugavpils kein Zufall ist sieht man schon in den ersten Aktionen. Ein eleganter Haken von Daugavpils und den Metalurgs Verteidiger sitzt es auf den Scheisser.
Von Anfang an kann man das taktische Konzept der Gastgeber klar erkennen. Man steht hinten gut und kompakt. Bei Ballverlust ergibt das ein 4-3-3. 3 Stürmer warten vorne an der Mittellinie auf die Konter. Wird der Ball erobert, schaltet man blitzschnell auf 3-4-3 um. Ein wahres Spektakel für mich, und eine Freude dieses Spiel sehen zu dürfen. Der Favorit Liepājas Metalurgs hatte da mächtig zu knabbern und kam relativ oft in Bedrängnis. Selbst wurde man kaum zwingend. Die Viererkette von Daugava Daugavpils stand einfach zu gut.
Daugava Daugavpils kam in Konterstössen immer wieder schnell über die Aussenpositionen nach vorne. Das passierte in einem atemberaubenden Blitztempo. In dieser Situation hatte Liepājas Metalurgs aber aufgepasst. Daugava Daugavpils spielte sich trotzdem reihenweise 100%ige Einschussmöglichkeiten heraus von denen sie aber keine einzige nützen konnten. Eine Tragödie! Im Bild: Genādijs Soloņicins (20) und der litauische Legionär in Diensten Metalurgs Tomas Tamošauskas (9).
Der Spielaufbau von Metalurgs in Person des Angreifers Jurģis Kalns (8) wird abgeblockt. Für Jurģis Kalns ist es bereits die 3. Saison bei Liepājas Metalurgs.
Eine relativ vollbesetzte Tribüne. 500 Zuschauer sollen es offiziell gewesen sein. Könnte hinkommen.
Wieder verjuxt Daugava Daugavpils eine von ihren Riesenchancen in der ersten Halbzeit. Liepājas Metalurgs versuchte zwar das Spiel zu machen, blieb aber weiter völlig harmlos.
… und wieder … viel Raum auf der linken Seite für Daugava Daugavpils. Der Georgier Bidzina Tsintsadze bricht durch und bringt die gefährlich Flanke.
Blick auf den erlauchten Kreis der Fussballfeinschmecker.
Ein Zaungast.
Man sieht es ihm im Gesicht an. Liepājas Metalurgs Verteidiger Mindaugas Bagužis (Litauer aus Kruoja) ist schon genervt von den schnellen Vorstössen der Gegner.
Abstoss von Daugava Daugavpils Torhüter Kaspars Ikstens.
Hier haben wir es mit dem russischen Daugava Daugavpils Verteidiger Dmitriy Polovinchuk zu tun. Eine sehr auffällige Gestalt, die sich auch immer in das schnelle Offensivspiel einschaltete. Dmitriy Polovinchuk wurde im Winter vom russischen Zweitligisten Torpedo Vladimir verpflichtet.
In der zweiten Halbzeit änderte sich erst einmal nicht viel. Nur langsam kam Liepājas Metalurgs immer besser in das Spiel, und der Elan der Gastgeber schien nachzulassen.
Doch zu Beginn der zweiten Halbzeit das gleiche Bild der ersten Halbzeit. Wieder einmal geht ein Schuss von Daugava Daugavpils aus guter Position nur drüber.
Nach 75 Minuten verlasse ich wieder meinen Tribünenplatz, um das Spiel aus einer anderen Position beobachten zu können.
Liepājas Metalurgs wird nun immer besser, und Daugava Daugavpils kommt nun auch selbst hinten immer öfter in das Schwimmen. Das Spiel auf Messers Schneide? Gespannt blickt das Publikum auf das Spielfeld.
Das dürfte einer der zwei Spieler aus dem Hotel sein. Sein Name? Andrejs Prohorenkovs. 35 Jahre alt, spielt seit 2008 für Liepājas Metalurgs, eine treue Seele sozusagen im heutigen Profigeschäft.
Nach einer kritischen Entscheidung des Schiedsrichter springen die Daugava Ultras empört auf!
Der Druck von Liepājas Metalurgs wird nun immer grösser. Hat Daugava keine Kraft mehr? Im Bild: Freistoss von Valerijs Afanasjevs (19).
Elfmeteralarm im Strafraum der Gastgeber in den letzten Spielminuten. Doch die Pfeife des Schiedsrichters bleibt stumm.
So endet ein tolles Spiel 0:0. Ein spektakulärer Fussball von Daugava Daugavpils in der ersten Halbzeit, und ein wütender Sturmlauf von Liepājas Metalurgs in den letzten 10 Minuten werden mir von diesem Spiel in Erinnerung bleiben. Ich denke der verdiente Sieger wäre Daugava Daugavpils gewesen. Sie hatten über 90 Minuten eindeutig dir grössere Anzahl an zwingenden Torchancen. Hätte sie eine davon genützt, wären sie als Sieger vom Platz gegangen. Wird sicher spannend jetzt weiter die lettische Liga im Internet zu verfolgen. Zumindest weiss ich jetzt in welcher Weise Daugava Daugavpils die Punkte zu machen pflegt. Bin nach diesem Spiel mit Sicherheit ein kleiner Daugava Daugavpils Anhänger geworden: DAU-GA-VA! Der Schlachtruf der Daugava Ultras.
Noch ein Blick zurück. Abschied nehmen fällt mir immer so schwer, wenn mir ein bestimmter Ort an das Herz gewachsen ist. Ja, Daugava Daugavpils ist mir nach diesem Spiel an mein Herz gewachsen.
Ich war dabei! 😀
Ich lasse den Abend im obersten Stockwerk des Hotels mit einem Buch von Joachim Fernau (Ave Cäsar) gemütlich ausklingen. Morgen Früh muss ich schon wieder Abschied nehmen von Daugavpils. Die Rückreise ist aber weniger kompliziert. Direkt mit dem Schnellzug von Daugavpils nach Vilnius.